Schauspiel

Klasse #4 mit Deniz Ohde

Eine Gesprächsreihe am Schauspiel • Begleitend zu der Produktion »Der Platz«

Klasse!

Klasse! #4

Streulicht

Input von und Gespräch mit Deniz Ohde, moderiert von Linda Elsner (Schauspielerin) und Mervan Ürkmez (Schauspieler)

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, ehe sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.

Wahrhaftig und einfühlsam erkundet die Autorin Deniz Ohde in ihrem Debütroman Streulicht die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.

Der Roman ist zu finden unter: https://www.suhrkamp.de/autoren/deniz_ohde_15478.html?d_view=veroeffentlichungen

Deniz Ohde, geboren 1988 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik in Leipzig, wo sie heute auch lebt. Für ihren Debütroman Streulicht, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis stand, wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und dem aspekte-Literaturpreis 2020 ausgezeichnet.

Das digitale Gespräch findet auf dem Schauspiel-Blog statt: Direkt zum Blog

Achtung: begrenzte Platzkapazitäten. Bitte anmelden unter: alopper@theaterdo.de.


Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux begibt sich in Der Platz in eine literarische Auseinandersetzung mit der Beziehung zu ihrem verstorbenen Vater und ihren Herkunftsverhältnissen. Bereits 1983 – lange bevor Didier Eribon mit seinem Bestseller Rückkehr nach Reims autobiografische Erzählung mit soziologischer Analyse verschränkt – untersucht Annie Ernaux in einer leisen und zärtlichen Selbstbetrachtung die Herausforderungen und Verluste, die mit einem sozialen Aufstieg aus der Arbeiterklasse verbunden sind. Was musste geopfert werden, damit sie, als erste in der Familie, studieren konnte? Was muss zurückgelassen werden, um den Erwartungen, die mit dieser Chance verbunden sind, gerecht zu werden? Und was muss neu erlernt werden, um sich in den Regeln des Bürgertums zurecht zu finden? Die Regisseurin Julia Wissert geht diesen Fragen zusammen mit dem Ensemble nach und wird sich in einer theatralen Recherche mit den Themen Herkunft und Klasse auseinandersetzen. 

Auf Grund der Corona-Pandemie musste die Uraufführung von Der Platz auf die nächste Spielzeit verschoben werden. Doch das Produktionsteam befindet sich derzeit in einem intensiven Rechercheprozess. Das Team spürt den Beziehungen zu den eigenen Vätern nach, befragt die eigene soziale Herkunft und wie sich diese auf die Biografien auswirkt und wirft einen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im Bezug zu Klasse. Im Rahmen der Recherchephase finden im März vier Expert*innengespräche per Zoom statt. Die Expert*innengespräche werden von dem Produktionsteam moderiert.