Schauspiel • Wiederaufnahme • Abgesagt

4.48 Psychose

von Sarah Kane

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4.48 Psychose

„Um 4 Uhr 48 | wenn die Klarheit vorbeischaut | für eine Stunde und zwölf Minuten bin ich ganz bei Vernunft. | Kaum ist das vorbei, werd ich wieder verloren sein, eine zerstückelte Puppe, ein absurder Trottel.“

28 Jahre alt ist Sarah Kane, als sie 4.48 Psychose schreibt – ein dunkles Gedicht direkt aus dem Feuer menschlicher Synapsen, eine vielteilige Bestandsaufnahme, hochpoetisch, ein Aufschrei voll Sehnsucht – und ein Abschied. Denn Sarah Kanes fünftes Stück ist zugleich ihr letztes: 1999, kurz nachdem sie das Manuskript ihrem Verleger übergeben hat, nimmt sich der damalige Shooting Star der britischen Dramatik das Leben. Den Tod findet Kane in einer Londoner Klinik, wo sie wegen Depressionen behandelt wurde.
Wohl autobiographisch verweist der Stücktitel auf den Augenblick der größten Klarheit einer Psychiatrie-Patientin: 4 Uhr 48, ein Moment zwischen zwei Medikamentendosen, wo die Tablettenwirkung in den Hintergrund tritt und die Klarheit kommt, die vielleicht zugleich Wahn ist. Auch der Beginn der kurzen Tagesphase, in der die Dramatikerin Kane in diesem Winter 1998/99 schreiben kann.

Die Depression, das Burn-Out – eine Stoffwechselstörung? Oder vielmehr die logische Schlussfolgerung, wenn man mit offenen Augen und offenem Herzen auf unsere Welt schaut? In ihrem 2000 posthum am Londoner Royal Court Theatre uraufgeführtem Text geht die 1971 geborene Sarah Kane in die absolute Nahaufnahme. Sie seziert Fleisch und Geist einer Erkrankung, die selbst Aufgeklärte zutiefst irritiert, lauscht auf den Puls eines Leidens, von dem Millionen von Menschen betroffen sind, das irgendwo zwischen Biochemie, Psychologie und Philosophie angesiedelt scheint. Es ist ein finaler Krieg, auf den Sarah Kane in 4.48 Psychose blickt: Der Krieg eines Menschen mit sich selber, der Krieg des Bewusstseins.

Was ist die Seele? Und woraus besteht die Krankheit? 3 Schauspieler, 4 Kameras, ein Kubus, Körper-Sensoren, Computer, Beamer und Boxen: Für 4.48 Psychose hat Kay Voges mit den Software-Ingenieuren Stefan Kögl und Lucas Pleß vom Dortmunder Hackerspace chaostreff dortmund, dem Musiker Tommy Finke, dem Videokünstler Mario Simon und den Schauspielern Björn Gabriel, Merle Wasmuth und Uwe Rohbeck einen theatralen Mensch/Maschine-Knoten realisiert, in dem die Metamorphose von Poesie in Elektro-Impulse erforscht wird. Herzschlag, Sprache, Sound, Licht, der Geist und die Materie – woraus besteht ein Ich? Ist die Seele messbar? Erzählen die Daten einen Menschen? 

Meinungen

Kritiken und Pressestimmen

labkultur.tv

„Sarah Kanes ‚4.48 Psychose‘ in der Inszenierung von Kay Voges [ – ] ein Tritt in Gesicht und Gedärm. Man muss gar nicht wissen, dass sich die Autorin Kane nur kurz nach Beendigung des Stücks das Leben nahm. Man ahnt nämlich, dass es nicht gut enden kann mit jemandem, in dem es so denkt. Die Zuschauer werden um einen transparenten Kubus platziert. Auf den Gazewänden laufen sowohl Texte, wie Bilder und immer wieder die Vitalfunktionen der drei verkabelten und mit Messgeräten beklebten Personen im Innern des Würfels. Zwei Männer, eine Frau. Auch in dieser Inszenierung keine klaren Einzelrollen. Drei Darsteller spielen eine einzige Zerbrochene in einer Art technisierten ‚Clockwork Orange‘ Welt aus Angst, Hass, Einsamkeit und schmerzender Liebe.
Wir begleiten die Selbstzerfleischung und Selbstoffenbarung eines Menschen, sind Zeuge des kläglich scheiternden Versuchs, Nähe und Liebe zu leben oder sich durch die Medizin helfen zu lassen. Der gemeine Satz des Therapeuten auf die Klage der Kranken, dass sie sich ja gleich umbringen könne, wenn sie nicht arbeiten könne: ‚Nichts schadet ihrer Arbeit so sehr wie Selbstmord.’
‚4.48 Psychose‘ ist das Inferno der Selbstoptimierung. Die drei Darsteller:innen (Björn Gabriel, Uwe Rohbeck und Merle Wasmuth) schaffen brillant die rasanten Ton- und Tempowechsel, das Auf und Ab von Geschrei und Gewimmer, Verzweiflung und überschäumenden Hass zusammenzufügen, so dass wirklich eine einzige Figur entsteht – eine allerdings, deren Widersprüche und Abgründe umso krasser sind. (...)
‚4.48 Psychose‘ ist der abendliche Höhepunkt, der ganz tief unten trifft. Voges Horror-Kubus wird eine Kaaba des Ichs: Zentrum eines revoltierenden und zugleich sehnsüchtigen Glaubens an ein anderes, besseres Ich. Doch alle Bewegung findet allein im Innern des Würfels statt, im Kopf der Figur. Entkommen unmöglich. Nun – nicht ganz unmöglich, wie wir schließlich erleben.
Und so schickt uns diese erneut großartige Inszenierung von Schauspielchef Kay Voges stumm und mit viel Durst auf Hartes in die Nacht; nicht in eine Stadt der Angst, sondern eine Stadt der Freude - zumindest mit Blick aufs Theater Dortmund.“

07. Mai 2014
Westfälischer Anzeiger

„Ein langes, ebenso analytisches wie fiebrig-poetisches Gedicht. Voges lässt es von Björn Gabriel, Uwe Rohbeck und Merle Wasmuth sprechen. Sie sitzen in einem Kubus, auf dessen transparente Hülle Videos und Screenshots projiziert werden. Mit Programmierern des Chaostreff Dortmund e.V., dem Musiker Tommy Finke und dem Filmer Mario Simon wurde eine Technik entwickelt, bei der Körperwerte wie Herzschlag, Atemfrequenz und Körper- temperatur der Akteure abgenommen und in Videomaterial umgesetzt werden. Um 4 Uhr 48, so der Text, ist die Wirkung der Medikamente am geringsten, der Geist am klarsten. Die Schichten dieser Multimediaarbeit vermitteln sehr präzise und nachvollziehbar die Fragen ans eigene Ich, danach, was ein Individuum ausmacht. Gibt es 21 Gramm Seele, die beim Sterben verschwinden? Furios behaupten sich die drei Darsteller gegen den massiven Apparat, und obwohl starke Mittel wie Lichtexplosionen, Musik von Wagner und Mozart, Kunstblut und Schreie eingesetzt werden, rutscht die Inszenierung nie ins Plakative ab. Wenn sie da von Liebe und Verzweifelung sprechen, berühren den Zuschauer am Ende doch die Menschen.“

05. Mai 2014
Deutschlandfunk

„Die Filmherzen auf den flimmernden Gazewänden schlagen im Takt der Darstellerherzen. Sarah Kane stellt in ihrem Text die Frage nach einer Persönlichkeit zwischen Geist und Materie.“

06. Mai 2014
nachtkritik.de

„Sechs mit langen schwarzen Metzgerschürzen bekleidete Gestalten stehen hinter einer eindrucksvollen Reihe von Computern, die über dicke bunte Kabel mit den drei Schauspielern im Kubus verbunden sind. Auf den Rücken der Schauspieler prangen gleich mehrere Messgeräte und Sender, deren Funktionsleuchten im Dunkeln blau und rot blinken – ‚Psychose 4.48‘ ist bereits die vierte Zusammenarbeit mit dem Chaostreff Dortmund e.V. und den Software-Ingenieuren Stefan Kögl und Lucas Pleß.
Kanes Text wird von den Schauspielern im Wechsel gesprochen. Zeitgleich entstehen auf ihre Körper und in den Raum projizierte Bilder, die aus Elektroimpulsen und körpereigenen Signalen wie Puls, Temperatur oder Atemfrequenz generiert werden. Voges stülpt so die implodierende Poesie von Kanes Abgesang auf ihre eigene psychische Erkrankung und die Vorwegnahme ihres Freitodes nach außen. ‚Depression ist Zorn’, sagt Kane selbst, und so schreien und kämpfen die drei, bis sie am Ende blutüberströmt Kniebeugen üben, während eine Stimme aus dem Off Erfolgsrezepte und Glücksformeln herunterrattert. Voges' Inszenierung ist eine gelungene Performance, die von ihrem installativen Charakter und starken abwechslungsreichen Bildern lebt, die alles auskosten, was technisch machbar war.“

04. Mai 2014
ruhrbarone.de

„Musiker Tommy Finke, außerhalb dieses Raumes immer noch in seiner Vielfältigkeit unterschätzt, lässt die Biodaten einfließen in die Musik. Puls und Atmung steuern teilweise den Sound. Das ist erschließt sich nicht immer, ist abgefahren und eigentlich Teil einer Versuchsanordnung, die scheitern muss, was gut ist. Denn das vollverkabelte, sensorgespickte Trio offenbart uns nichts, seine Millionen Daten dieses Abends machen die Seele nicht messbar. (…) Der Sog von Spiel, Sound, Musik und Video ist enorm, ist wie das Zurückgehen des Meeres, bevor der Tsunami alles zerstörend einsetzt. Wir sehen die sprechende Figur nicht nur dreifach, wir sehen die Gesichter der drei im Video miteinander verschmelzen und sich überlagern, wir sehen sie als Hülle auf dem halbdurchsichtigen Tuch, wir sehen durch die Videoprojektion hindurch auf die im Vergleich echte Fiktion, geschaffen von lebenden Schauspielern, dringen vermeintlich durch die Oberfläche in den inneren Kern, ohne zu finden, was da sein muss, da sie erkrankt ist, die Seele. Der Abend ist rasend. Er ist so schnell, so dicht, so viel, dass er nicht aufhört, wenn der Applaus verstummt.“

06. Mai 2014
theaterpur.net

„Regisseur Kay Voges entwickelte mit den Software-Ingenieuren Stefan Kögl und Lucas Pleß einen theatralen Laborversuch der besonderen Art. Im Studio des Theaters Dortmund ist ein Kubus aufgebaut, dessen Seiten mit Gaze bespannt sind. Eine ideale Projektionsfläche einerseits – wir sehen Textpassagen und Messwerte der Akteure (wie Puls, Temperatur, Systole, Diastole) -, andererseits auch transparent, so dass man die drei Schauspieler im Innern beobachten kann. Weiß gekleidet wie Insassen einer Heilanstalt, tragen sie Messgeräte mit blinkenden Lampen auf dem Rücken. Die Zuschauer sitzen wie in einer Art großen ‚black box‘ um die Bühne herum und verfolgen diesen aufrüttelnden Versuch der Vermessung der Seele. Der Text ist nicht bestimmten Rollen oder Figuren zugeordnet. Merle Wasmuth, Uwe Rohbeck und Björn Gabriel sprechen ihn im Wechsel und werden dann jeweils von der Kamera aufgenommen und auf die Gaze im Großformat projiziert. Rohbeck ist dabei mehr der nüchterne Analytiker, Gabriel spricht mit glaubhafter Emphase, Wasmuth schert sich die Haare ab und ritzt sich den Arm auf, blutbesudelt, ein Mensch am Ende seiner Kraft. Großes Lob für die Schauspieler!“

08. Mai 2014
Ruhr Nachrichten

„Das Stück lässt sich als Tagebuch einer angekündigten Selbsttötung lesen. Es erzählt – zum Teil berührend poetisch – vom Verschwinden, Verlöschen eines Menschen, von Panik und Angstzuständen – und diese Verwirrung einer zutiefst Verstörten setzt Voges effektvoll in Szene. Unablässig werden Daten (Temperatur, Puls, EKG) der Darsteller in den Raum projiziert, Fragmente des Stücktextes in englischer Sprache, Animationen von pumpenden Herzen... und die Köpfe der im Wechsel sprechenden Akteure. Oft schreiend kämpfen sie verzweifelt um ihr Leben, verleihen ihrem Schmerz Ausdruck. Sätze, mal als Monolog, dann wieder als Gespräch mit einem Arzt, die ein Protokoll einer Depression ergeben, Einblick in die Abgründe einer Seele eröffnen. (…) Ein intensives Theatererlebnis.“

05. Mai 2014